
Über Flow-Momente, Stimmfreiheit und warum sie so oft unerwartet kommen
Kennst du diesen Moment?
Du singst - und plötzlich fließt es. Ein Ton, der gestern noch schwer war, klingt auf einmal klar und leicht. Eine Phrase, bei der du immer außer Atem gekommen bist, singst du vollkommen entspannt. Du bist ganz im Klang, ganz im Körper und irgendwie auch ganz bei dir ohne viel nachzudenken.
Das ist Flow.
Und für viele SängerInnen ist es ein Geschenk, das sich oft ganz nebenbei entfaltet – nicht mit Anstrengung, sondern mit Vertrauen und Loslassen.
Was ist da geschehen?
Der Flow-Moment beim Singen ist mehr als nur "gut drauf zu sein". Es ist ein Zustand, in dem sich dein Körper, dein Atem, deine Stimme und deine Aufmerksamkeit synchronisieren.
Du denkst nicht mehr über Technik nach – sie passiert einfach. Du hörst dich selbst und bist doch nicht kontrollierend dabei. Du singst nicht mehr, du bist Stimme.
Psychologisch gesehen ist Flow ein Zustand höchster Konzentration bei völliger Hingabe an eine Tätigkeit. Ohne Bewertung. Ohne Druck. Ohne Ziel im klassischen Sinne.
Hingabe
Ich hatte vor Jahren eine Schülerin, die sich in dem Moment, als der Flow einsetzte, total erschrocken hat. Sie hatte sich (und mich) völlig vergessen und aus ihr kamen diese hinreißend schönen Klänge, dass ihr die Tränen liefen - und mir beinahe auch.
Und tatsächlich kann dies ein Moment höchster Zerbrechlichkeit sein. Eine Seelenberührung, weil man sich ganz öffnet. Meistens aber ist es einfach ein wunderbarer Moment der stimmlichen Freiheit. Und weniger überwältigend, sondern einfach nur schön.
Warum ist es für reifere Menschen leichter?
Viele meiner älteren Sängerinnen und Sänger berichten genau von diesen Erlebnissen. Und interessanterweise sagen. sie: "früher hätte ich das gar nicht zulassen können."
Warum?
- Weil Leistungsdruck oft mit dem Beruf oder der Jugend verbunden sind und sich mit dem Alter relativieren.
- Weil viele erst spät lernen, sich selbst und ihrer Stimme wirklich zu vertrauen.
- Weil Lebenserfahrung uns lehrt: es muss nicht immer perfekt sein. Es darf einfach echt sein.
In Kursen und Proben sehe ich es immer wieder: sobald die Kontrolle losgelassen wird, kommt oft mehr Klang, nicht weniger.
Allerdings spreche ich hier von Menschen, die sich technisch schon eine Weile mit dem Gesang auseinandergesetzt haben und ein paar Werkzeuge entwickelt haben. Sie haben schon gelernt, gesangliche Wege richtig zu gehen. Wenn sie loslassen, fällt die Stimme an ihren Platz und nicht in ein ungeübtes Nirvana.
Wie kannst du diese Momente fördern?
Auch wenn Flow sich nicht erzwingen lässt: du kannst ihm den roten Teppich ausrollen:
- Weniger wollen – mehr wahrnehmen, mehr lassen.
--> Statt zu denken: "ich muss das jetzt hinkriegen." Frage dich: "Wie fühlt sich das gerade an?"
- Mit dem Körper, statt gegen ihn zu arbeiten.
--> Atme bewusst, spüre den Boden, nimm deinen Körper, als ganzen Resonanzraum war.
- Wertfrei singen.
--> Nicht gut oder schlecht, sondern: "wie klingt das, wenn ich einfach loslasse?"
- Technik als Werkzeug, nicht als Ziel.
--> Technik ist da, um dich zu unterstützen, nicht um dich einzuschränken oder zu kontrollieren.
Und dann?
Dann kommt er manchmal ganz leise - der Flow.
Du singst und denkst plötzlich: "war das gerade wirklich ich?"
Ja. Das warst du. Und vielleicht war das der Anfang einer neuen Beziehung zu deiner Stimme.
Als Gesangslehrerin bin ich nicht nur dazu da, dir eine gute Technik zu vermitteln und Hintergrundwissen in Anatomie und Stimmphysiologie zu geben, ich bin auch dafür da dich dazu anzuregen, diesen Flow mit dir selbst zu finden.