Kunst leben – und doch nicht davon leben können

Ein Real Talk über KünstlerInnen, Vocal Coaches und Grundsicherung

Wusstest du, dass viele Künstlerinnen in Deutschland trotz Ausbildung, Talent und Arbeit, zeitweise auf Bürgergeld angewiesen sind? - Und damit sind nicht nur Newcomer gemeint, sondern auch Menschen mit vollen Terminkalendern, Bühnenauftritten und Unterrichtsverträgen - auch sogenannte Promis. In diesem Beitrag nehme ich dieses Thema unter die Lupe.

Sie lehren, spielen, singen, gestalten – und landen doch regelmäßig am Rand der wirtschaftlichen Existenz. Besonders sichtbar wird das in einer Berufsgruppe, die selten im Rampenlicht steht: Vocal Coaches und GesangslehrerInnen. Sie halten die Stimme anderer am Laufen, während sie selbst finanziell kaum über Wasser bleiben. Viele von ihnen sind ursprünglich hochqualifizierte Sängerinnen und Sänger, die unterrichten, um über die Runden zu kommen. Doch auch dieser Weg ist brüchig.

 

Kunst zu leben heißt auch heute oft, Unsicherheit zu leben. Und das hat nichts mit mangelnden Fähigkeiten und dem Talent der Betroffenen Personen zu tun, sondern mit einem System, das Kreativität liebt, aber ökonomisch kaum trägt und eher unbewusst konsumiert.

Zwischen Bühne und Bürgergeld

Deutschland gilt als Kulturnation – mit Theatern, Musikschulen, Förderprogrammen, Künstlersozialkasse. Doch hinter den Kulissen sieht die Realität anders aus: 

  • Laut einer Erhebung des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) mussten schon über 7% der Befragten Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld beantragen.
  • In der freien Theaterszene und unter selbstständigen Musikerinnen liegen die Quoten deutlich höher – Schätzungen sprechen von 10 bis 15% je nach Sparte und Jahr.
  • Für viele bedeutet das: phasenweise Grundsicherung zwischen Engagements, weil die Einkünfte aus Unterricht, Konzerten oder Projekten nicht reichen.

Wie sagte es ein befreundeter Schauspieler (Max-Reinhardt-Seminar, namhafte Produktionen im In- und Ausland) so schön, als ich fragte, wie es ihm gehe:

"Das Geld kommt und das Geld geht. Ich habe mich daran gewöhnt, von faktisch nichts zu leben."

Die Pandemie hat die Situation massiv verschärft. Plötzlich brach der Unterricht weg, Konzerte fielen aus, Engagements wurden gestrichen. Viele KünstlerInnen hatten über Monate null Einkommen – und mussten erstmals Grundsicherung beantragen. So auch die Vocal Coaches. Zwar gab es Hilfsprogramme, doch die deckten oft nur Betriebskosten, nicht den Lebensunterhalt. Und viele haben sich allein um zu leben hoch verschuldet. Denn das Konto ging pro Monat mit 300-500 Euro ins Defizit. 

Die unsichtbare Armut in der Kunst

Die meisten KünstlerInnen leben nicht vom Applaus. Sie leben von Projektgeldern, Honoraren, Nebenjobs. Und der Hoffnung auf den nächsten Auftrag.

 

Das Problem ist strukturell:

  • Die Honorarsätze sind niedrig
  • Die Verträge befristet oder gar nicht vorhanden
  • Die Einkommen schwanken von Monat zu Monat
  • Und die Bürokratie bei Sozialleistungen schreckt viele ab.

Viele Kulturschaffende, die eigentlich Anspruch auf Bürgergeld hätten, beantragen nichts. Aus Scham. Aus Angst, nicht mehr als „richtige Künstlerin“ wahrgenommen zu werden. Oder weil sie sich durch die Einkommensnachweise, Prognosen und Anrechnungsregeln kämpfen müssten, während sie gleichzeitig unterrichten, proben, spielen, leben.

 

Beziehen sie für sechs Monate Leistung, und ergattern in dieser Zeit zufälligerweise einen begehrten Auftrag oder eine super bezahlte Rolle, dann werden diese Einkünfte, die ihnen endlich mal ein bisschen Luft verschaffen, am Ende des Zeitraums gegen die empfangenen "Leistungen", die gerade so hoch sind, dass man nicht ganz verhungert, angerechnet.

 

Und dann heißt es zurückzahlen. Meist in einer Periode, in der die Einkünfte dann wieder dünner gesät sind. Ein Teufelskreis beginnt: irgendwie hat man das Gefühl man muss noch schneller rennen, irgendwie besser sein, oder sichtbarer. Auf Dauer hält das Nervensystem eine solche Belastung nicht aus. Besonders dann nicht, wenn man älter wird. Die Situation macht krank, wenn man nicht ausreichend Tools hat, um trotzdem stabil zu bleiben.

 

Die Dunkelziffer derjenigen, die eigentlich Bürgergeld bräuchten, sich aber aus oben genannten, verständlichen Gründen nicht in die Mühlen des Systems begeben wollen, ist entsprechend hoch.

Vocal Coaches: die unsichtbaren Stützen nicht nur des Musikbetriebes

Gerade GesangslehrerInnen und Vocal Coaches sind ein gutes Beispiel für diese stille Prekarität. Sie bilden aus, sie coachen Bühnenprofis, sie halten Chöre und Musicals am Laufen - und  sie sorgen dafür, dass in der freien Wirtschaft "wichtige Menschen" Gehör finden. Durch Stimmtrainings, durch Auftrittscoaching, durch Präsenzarbeit. Doch selbst arbeiten sie oft auf Honorarbasis, ohne feste Verträge, ohne Urlaubsanspruch, ohne soziale Absicherung.

 

Viele verdienen zwischen 1.200 und 1.800 Euro im Monat - brutto, oft schwankend, manchmal weniger. Fällt ein Schüler aus, bricht ein Workshop weg, bricht eine Grippewelle aus, ist der Monat schnell im Minus. Und dann? Konto ans Limit fahren, Visacard ausreizen oder/und Bürgergeld. Das ist keine Seltenheit.

 

Die Künstlersozialkasse weiß um diese Realität – sie weist selbst darauf hin, dass freiberufliche KünstlerInnen bei unzureichendem Einkommen Anspruch auf Grundsicherung haben. Es ist also kein Einzelfall, sondern ein bekanntes, systemisches Phänomen.

 

Trotzdem wird nichts unternommen und so getan, als sei dies gesamte Thema ein persönliches Problem der jenigen, die sich für diese Art Beruf entschieden haben. Warum waren wir auch so blöd? Wir hätten doch eine schöne Banklehre machen können... - Hätten wir?

Zwischen Idealismus und Existenzangst

Wer künstlerisch arbeitet, tut das selten aus Traumtänzerei oder Bequemlichkeit. Es ist Leidenschaft, Berufung, oft auch Opferbereitschaft. Doch das Ideal der freien Kunst stößt an seine Grenzen, wenn die wirtschaftliche Basis fehlt.

 

Wenn diejenigen, die Kultur schaffen, systematisch unterbezahlt sind, ist das kein persönliches Scheitern. Es ist ein gesellschaftliches Versagen. Denn während Kultur als Standortfaktor, Image und Tourismusmagnet gefeiert wird, leben ihre SchöpferInnen in wirtschaftlicher Unsicherheit. 

 

Viele Künstlerinnen bewegen sich über Jahre in einem Kreislauf aus Projektarbeit, Unterbrechung, Bürgergeld, Neustart. Es ist ein permanentes "Sich-selbst-neu-erfinden". Eine außerordentlich Energie konsumierende Dynamik. Kaum jemand redet darüber. Und genau das ist das Problem.

Der Fake auf Social Media

"Wir sind es gewohnt, unsere Erfolge in der Öffentlichkeit zu feiern und zu verschweigen, warum wir trotzdem in Armut leben."

Man muss, um obiges Bild abzurunden, auch klarmachen, dass die entsprechenden KünstlerInnen sich in ihrer Vulnerabilität und ihrer außerordentlich prekären Lage selbst sichtbar machen müssen. Nicht mit Jammerei, sondern mit Sachlichkeit und Solidarität.

 

Noch immer gilt vieler Orts, dass man Glanz & Gloria zeigen muss, selbst wenn furchtbarer Mangel und permanenter Existenzalarm das eigene Leben bestimmen.

 

Da werden Social-Media-Profile aufgepumpt, mit glitzernden, großartigen Bildern von Events und upcoming Workshops und Auftritten. Denn niemand soll sehen, dass es einem schlecht geht. Noch immer herrscht in der Szene und in der Gesellschaft der Eindruck vor, dass man erfolgreich wirken musst, um erfolgreich zu sein. 

 

Dazu gehört unter anderem: auf keinen Fall krank zu erscheinen. Statt dessen sich selbst im perfekt gebrandeten Dauer-Power-Flow als jemanden darzustellen, der es "geschafft" hat, bei dem es "läuft".

 

Es tut ja so gut, sich im Glitzeroutfit vor einem Mikrofon im Scheinwerferlicht zu zeigen. Dann kann man für eine Weile selbst glauben, dass man ganz oben ist.

 

Aber diese Ausschließlichkeit im Außenbild, besonders der darstellenden KünstlerInnen, ist alte Denke. - Und die hat über Jahrhunderte NICHTS zum Besseren unserer Branche bewirkt.

Ein strukturelles Versagen

Viele Kulturschaffende, die Unterstützung beim Jobcenter beantragen, erleben, dass das System auf ihre Lebensrealität kaum vorbereitet ist. Die Strukturen dort sind in erster Linie auf klassische Erwerbsbiografien ausgelegt – auf Menschen mit festen Arbeitszeiten und klaren Monatsgehältern. Für selbstständige Künstler:innen, deren Einkommen schwankt, gibt es bislang wenig Verständnis und kaum passende Lösungen. Das ist kein persönliches Versäumnis einzelner Mitarbeitender, sondern eine Lücke im System.

 

 

Die Lösung kann nicht allein in Förderprogrammen liegen.


Wir brauchen:

  • faire Honorare in öffentlich geförderten Projekten.
  • langfristige Verträge und soziale Absicherung für Lehrkräfte in Musik und Darstellender Kunst.
  • und ein Bewusstsein, dass Kulturarbeit keine Liebhaberei ist, sondern gesellschaftlich notwendige Arbeit, die sich auch in der Haltung des Job Centers im Umgang mit KünstlerInnen widerspiegelt.

Kunst ist Arbeit

Kunst ist kein Luxus. Kunst ist das, was eine Gesellschaft zusammenhält, wenn Wirtschaft und Politik versagen. Aber solange Künstlerinnen und Künstler in Deutschland nicht von ihrer Arbeit leben können, läuft etwas grundsätzlich falsch.

 

Die Frage ist also nicht: Warum beziehen KünstlerInnen Bürgergeld? Sondern: Warum müssen sie es überhaupt tun, um in einem reichen Land Kunst schaffen zu können? Und warum müssen sie sich immer wieder für ihre Art des Dienstes an der Gesellschaft rechtfertigen?

Resümee

Wer ist betroffen?

Sänger:innen, Schauspieler:innen, Designer:innen, bildende Künstler:innen, Musiker:innen – und ja, auch viele Vocal Coaches & Gesangslehrer:innen.

Sie unterrichten, sie performen, sie bilden aus – und trotzdem reicht das Einkommen oft nicht, um Miete, Krankenversicherung und Lebenshaltungskosten zu decken.

Viele hangeln sich von Projekt zu Projekt. Zwischen Aufträgen klafft oft eine Lücke, die nur eines füllt: Bürgergeld. - Nicht selten still, nicht selten mit Scham.

Was sagen die Zahlen?

  • In Umfragen des BBK und anderer Verbände gaben 5–13 % der Künstler:innen an, aktuell oder kürzlich auf Grundsicherung angewiesen gewesen zu sein.
  • Noch mehr hätten Anspruch, beantragen aber nichts – aus Angst vor Stigmatisierung oder wegen bürokratischer Hürden.
  • Besonders stark betroffen: Darstellende Künste, Musik & Gesang, vor allem Solo-Selbstständige.
  • Die Pandemie hat das Problem nur sichtbarer gemacht – nicht geschaffen.

Warum das wichtig ist

Kunst ist keine Freizeitbeschäftigung. Sie ist Arbeit. Gesellschaftlich wertvoll, emotional unverzichtbar, wirtschaftlich aber oft prekär.

Wenn Menschen, die unsere Bühnen, Galerien und Unterrichtsräume füllen, vom Staat leben müssen, während andere von ihrer Kreativität profitieren – dann läuft etwas grundsätzlich schief.

Sprich darüber.

  •  Frag nach den Arbeitsbedingungen hinter der Kunst.
  • Verstehe, das Unterrichte & Workshops ihren Preis haben.
  • Unterstütze fair bezahlte Engagements.

Und erkenne: Kunst ist keine Nebensache – sie ist Lebensarbeit.